Es waren nun schon einige Wochen vergangen, seitdem Amber zum ersten Mal im Herrenhaus aufgewacht war. Das Mädchen wusste zwar mittlerweile, dass dies keine große Zeitspanne war, aber für sie fühlte es sich an wie ein ganzes Leben. In der Tat war es ja auch so etwas Ähnliches, denn Ambers Erinnerungen gingen nicht über diese Zeit hinaus.
Phobos’ Vermutung hatte sich nicht bewahrheitet; die Bücher hatten dem Gedächtnis des Mädchens nicht auf die Sprünge geholfen. Allerdings hatte Amber durch ihre Zeit in der Bibliothek des Herrenhauses ein halbwegs standfestes Weltbild aufgebaut, für das üblicherweise viele Jahre Zeit hätten vergehen müssen. Sie verstand, dass die Welt weit über
die Grenzen dieses Gebäudes hinaus ging; sie begriff Konzepte wie Gesellschaft, verschiedene Sprachen und Wissenschaften. Die Gondalesische Sprache hatte sie mit Hilfe der beiden anderen sehr schnell gemeistert und sie konnte sie nun einwandfrei
lesen und schreiben.
Womit sie sich noch schwertat war die Idee, dass es neben der Art von Mensch, die sie bisher kennengelernt hatte, noch eine weitere existierte; der „Mann“. Sie, Alva und Phobos waren alle sogenannte „Frauen“, aber da Amber soweit sie sich erinnern konnte noch nie einen Mann zu Gesicht bekommen hatte, konnte sie sich nur wenig darunter vorstellen. In medizinischen Kompendien und auf den Illustrationen der Geschichtsbücher waren etliche Abbildungen von Männern zu finden; in den Geschichten, die Amber zu Dutzenden verschlang, kamen sie natürlich auch vor. Doch einmal einen echten Mann mit eigenen Augen zu sehen …
Sie hatte ihre Gedanken darüber einmal beiläufig beim Frühstück geäußert und beobachtet, wie Alva und Phobos sich perplex angeschmunzelt hatten. Das war auch etwas, woran sie sich schon lange gewöhnt hatte. Das Verhältnis der drei, dass Amber ihre Fragen über die Welt hatte und manchmal auf Erklärungen der anderen beiden angewiesen war, war zum natürlichen Lauf der Dinge geworden. Sie schämte sich nicht mehr dafür, denn sie merkte selbst ihre geistigen Fortschritte und obwohl sie zu Beginn nie begriff, warum denn jetzt eine bestimmte Frage nun so lustig für die beiden erwachsenen Frauen war, so kicherte sie herzlich mit, wenn ihr die Erklärung dafür gegeben worden war.
Das Gespräch darüber, was denn nun ein Mann sei, verlief mit besonders viel Freude seitens der beiden anderen. Die unterschiedlichsten Schauergeschichten, wie furchtbar denn manche Männer waren (meist von Alva erzählt) ließen in Amber die Frage, ob sie denn wirklich so jemanden treffen wollte … doch wenn es um die Frage ging, was es denn vielleicht Gutes an Männern gab, so wurde die Stimmung ernster.
Amber kannte den Begriff der Liebe und für ihr Verständnis liebte sie Phobos und Alva. Doch sie wusste auch, dass es noch andere Formen der Liebe gab. Die Frage, ob man denn einen Mann lieben könne und wie das vielleicht aussah, hatte eine seltsame Spannung am Esstisch des nächsten Morgens ausgelöst. Alva hatte Phobos einen seltsamen Blick zugeworfen und diese hatte Amber kurz und sanft lächelnd gesagt, dass sie das wohl selbst würde erleben müssen, um es zu verstehen. Und damit konnte Amber natürlich nichts anfangen …
***
Von ihrem Platz beim Fenster konnte Amber die beiden kleinen Vögel gut beobachten, die draußen umherschwirrten und immer wieder in eine der näheren Baumkronen eintauchten. Dort hatten sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Nest. Das Buch, das sie
gerade zu lesen versuchte lag aufgeschlagen in ihrem Schoß. Fortgeschrittene Druidische Grammatik.
Es war nicht langweilig, aber Amber konnte sich nicht wirklich darauf konzentrieren. Immer öfter in letzter Zeit schweiften ihre Gedanken ab zu Phobos. Nicht nur Ambers Verständnis der Welt hatte sich über die letzten Wochen verändert, sondern auch ihr Verständnis der beiden Frauen; vor allem der Frau, die sie im Wald gefunden hatte. Phobos schien in ihren Augen immer mysteriöser zu werden und Amber musste akzeptieren, dass die Vergangenheit der jungen Frau vielleicht auch von dunklen Schatten gezeichnet war so wie anscheinend ihre eigene … ihre eigene Vergangenheit … sie hatte aufgegeben, darüber zu sinnieren, was früher passiert war. Sie hatte sich fest dazu entschlossen, im Hier und Jetzt zu leben und so viel über die Welt zu erfahren, wie es ihr möglich war. Dass ihre eigene Vergangenheit sie immer weniger interessierte, schien ihr dabei nicht ungewöhnlich…
Und doch war diese Entscheidung nicht aus rationaler Überlegung entstanden, sondern aus einem Gefühl in ihrem tiefsten Inneren und Amber hatte ohne zu zögern diese Wendung akzeptiert. Vielleicht würden die Antworten einfach zu ihr kommen, ob sie es taten, war nicht wichtig. Und doch … vielleicht lügte sie sich dabei selbst an?
Die verzerrten Bilder der blutigen Leiber hatte sie nicht vergessen. Sie waren unter allen anderen Gedanken in die Schatten ihres Geistes geschoben worden, doch sie verschwanden nicht…
Ein Wiehern riss Amber aus ihrem Grübeln. Sie blickte nach unten und konnte am Rand des Fensters gerade noch Phobos’ Kopf erkennen. Ein paar Mal hatte sie selbst mit den Pferden zu tun gehabt; hatte Phobos beim Ausmisten und Füttern geholfen … eines Tages würde sie vielleicht selbst den Wald verlassen … sie fühlte sich immer mehr bereit dazu.
Der Wald selbst hatte sich nur wenig verändert. Tatsächlich war der Frühling, von dem ihr Alva erzählt hatte, vor einer Weile eingetroffen, aber es sah nicht so aus, wie er in den Büchern beschrieben war. Phobos hatte ihr erklärt, dass der „Tote Wald“ seinen Namen nicht grundlos trug und er sich nicht so verhielt wie andere Wälder. Doch die Luft war immerhin wärmer geworden und der Boden knisterte nicht mehr vom Frost. Alva sprach schon davon, dass bald Sommer würde und Amber war neugierig, ob der Wald vielleicht dann eine große Veränderung erleben würde …
Alva … ob sie im Bad schon fertig ist?
Amber schwang ihre Beine von der Fensterbank und legte das Buch in die kleine Tasche ihrer Schürze.
Später …
Das Haus war still wie immer. Sie klopfte leise an die Badezimmertür an.
Alva? Bist du noch da? Kann ich reinkommen?