Nüchtern starrt der Abgesandte der Frau ins Gesicht und steckt den Brief wieder ein. Er hat keineswegs vor, ihr kleines Spiel mitzumachen. Sein Lächeln fällt und er merkt, dass er sich auch weniger neckisch verhalten muss.
Die Lage ist zu ernst.
Es ehrt Euch, dass Ihr so gastfreundlich seid. beginnt er vorsichtig. Er hat plötzlich das Gefühl, dass diese Frau vielleicht mehr kann, als es den Anschein hat. Und wer weiß, was für "verirrte Wanderer und Abenteurer" momentan im Haus sind, welche ihr zur Hilfe eilen und eine Konfrontation schwierig und möglicherweise sinnlos machen könnten.
... und wie es scheint, sind meine Männer und ich Euch zu Dank verpflichtet. Er neigt leicht das Haupt.
Er blickt sie eindringlich an und erlaubt sich einen Moment der Stille.
Doch ... ich will Euch warnen. Es ist nicht meine Aufgabe, Menschen zu terrorisieren, sondern sie vor denen zu schützen, die ihnen schaden werden. er wendet sich um und gibt den Männern ein Zeichen zum Aufsitzen.
Ihr wollt mir keinen Einlass gewähren und ich werde nicht versuchen, mir gewaltsam Zutritt zu verschaffen.
Er trat dennoch einen Schritt näher. Gerade nah genug, dass es unbehaglich war.
Doch wisst dies. Ihr mögt vielleicht jetzt denken, dass Ihr sicher seid, aber ich kenne dieses Monster länger als Ihr. Wenn Ihr sie entgegen Euren Aussagen hier beherbergt, dann nehmt Euch in Acht. Sie mag Euch noch scheinen, wie ein harmloses kleines Mädchen, noch mögt Ihr das Gefühl haben, keiner ... "gemein gefährlichen Person" Einlass gewährt zu haben, doch Ihr täuscht Euch. Und ob ich sie jetzt in die Finger bekomme oder nachdem sie Euch und Eure ... Gäste vernichtet hat ... das ist mir gleich.
Es ist Euer Verlust, Mylady.
Er verneigt sich noch einmal, bevor er sich umkehrt und die Treppen herabsteigt.
Sicher kann er sich nicht sein, vielleicht waren seine letzten Worte ein extrem paranoid wirkender Schuss ins Blaue. Vielleicht lügt die Frau am Ende doch nicht und das Mädchen war nie hier. Doch er hofft inständig auf das Gegenteil. Und, dass seine Worte sie jetzt bereits zum Nachdenken bringen. Wenn das Mädchen hier ist, dann wird die Frau Fragen haben und ihm hoffentlich nachrufen. Es wird soviel einfacher sein, die Bestie gefangen zu nehmen, während sie noch zahm und unschuldig wirkt. Und es wäre wirklich schade um die Leben der Menschen hier ...
Er schwingt sich auf sein Pferd und blickt noch einmal in ihre Richtung.
Traurig, dass eine so schöne junge Frau so stur sein muss.
Mit einem Nicken zu den Soldaten beginnt er loszutrotten ... die Männer folgen ihm gehorsam.
***
Lass - Lass mich LOS!! AH!
Amber zerrt und kämpft so gut sie kann, um ihren Arm aus dem eisernen Griff des Jungen zu befreien, doch es nützt nichts.
Sie blickt kurz nach hinten wo das Herrenhaus noch gut sichtbar in kurzer Entfernung liegt. Sie kann sogar noch die offene Küchentür und leicht auch die schattige Küche dahinter ausmachen.
PHOB- PHOBOS!!!
Der Junge zerrt sie einfach weiter und Amber stolpert über ihre eigenen Füße. Noch im selben Moment - so scheint es - wird sie von zwei starken Armen aufgefangen und der Junge trägt sie mühelos weiter.
Uh ... NEIN!! sie strampelt und versucht ihm einen Ellenbogen in die Rippen zu rammen doch auch das bringt nichts. Er hält sie zu sehr fest. Dass er sie überhaupt so tragen kann...?
B-BITTE! sie versucht erneut, ihre Hände und Arme zu befreien, Tränen laufen ihr über die Wangen, doch er lässt nicht los.
PHOBOS!!! HILF MIR!!!
Niemand kann dich hören. sagt der junge ruhig, doch sie ignoriert ihn
PHOBOS!!! WASAAA!!! ein Licht der Hoffnung flammt in ihr auf. Gestern, in der Bibliothek, hat Wasabogoa es ihr erzählt. Dass er den Geist eines jeden Wesens spürt! Dann wird er ... und wenn nicht, dann Alva! Sie kann ... ihre Aura ...
Geschockt stellt Amber fest, dass das keine Option ist.
Alva ist nicht hier ...
Doch ist sie.
W-Was?!
Das Mädchen ist so überrascht, dass sie kurzzeitig aufhört zu kämpfen.
Doch sie kann deine Aura nicht spüren. Und auch dein Geist ist maskiert. Keiner kann dich hören oder sehen. Keiner weiß, dass
du hier bist.
Außer Shera vielleicht ... doch er drückt den Gedanken fort.
Sie erreichen den Rand der Lichtung.
NEIN!! NICHT DER WALD, BITTE!! sie beginnt wieder zu strampeln und versucht, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, damit er sie fallen lässt und hinfällt.
Niemand spürt dich. Auch nicht die Tiere. Du verströmst keinen Duft und keiner spürt deine Angst.
Außer mir ... deine Angst brennt so sehr ... bitte ... bitte hab keine Angst vor mir.
Hasse mich nicht hierfür.
Amber zittert. Sie bekommt plötzlich kein Wort mehr heraus, als sie ein Böschung hinabsteigen und die Halbfinsternis der Bäume sie umschlingt.
Sie klammert sich jetzt sogar an ihn.
Siehst du?
Er bleibt stehen. Zögerlich dreht sie den Kopf. In der Ferne schleicht ein dunkles Ungetüm vorüber. Größer als ein Mensch und schon von Weitem ziemlich angsteinflößend. Amber lässt einen panischen Laut vernehmen.
Der Junge setzt sich in Bewegung und Amber schüttelt mit weiten Augen ungläubig den Kopf.
N-Nein. Nein! NEIN!! NEIN!!!!! BITTE!! BITTE LASS - sieh doch - MICH LOS!! BITTE!!
Er bleibt wieder stehen, diesmal weniger als Fünfzig Schritt vom Ungeheuer entfernt. Die Augen leuchten rot, scharfe, lange Zähne und Krallen ... doch es ist so langsam. Beinahe ... friedlich?
Das Mädchen verstummt wieder und versucht, so leise wie möglich zu atmen
b-bitte ...
Dann macht der Junge etwas, was Amber beinahe das Herz stehen lässt. Vorsichtig, langsam, setzt er sie ab. Dabei hält er immer noch ihre Rechte fest umschlossen, Sie wird nicht fliehen können. Und tatsächlich; ihre Beine geben nach und sie sinkt auf den Boden. Panische große Augen erfassen das Monstrum, welches sich langsam vor ihr zwischen den Bäumen bewegt.
Ihr Herz rast.
Verstehst du? Solange du bei mir bist - solange ich dich berühre, bist du in Sicherheit.
Sie spürt, wie sein Griff locker wird. Es schockt sie, macht ihr Angst, überrascht sie und ... setzt einen Gedanken frei.
Doch bevor sie aus dieser Verwirrung Sinn machen kann, fährt ein Finger unter ihr Kinn und hebt ihr Gesicht an. Der Blick des Jungen durchbohrt ihre Seele.
Er testet sie. Gibt ihr die Möglichkeit, sich loszureißen und zu fliehen. Er will ihr zeigen, dass sie ihm Vertrauen kann. Zeigen, dass er ihr nichts Böses will.
Es ist instinkt, keine bewusste Entscheidung. Der Sekundenbruchteil, als sie ihr ganzes Gewicht von ihm wegwuchtet, ist schon lang vergangen. Der Gedanke, der sich vorhin in Gang setzte, sticht jetzt klar und deutlich in ihr Bewusstsein.
Lauf. Lauf um dein Leben.
NEIN!
Sie - sie hat dich getäuscht!?
Amber ist schnell. Wo gerade noch ihre Beine nicht mal ihr eigenes Gewicht getragen haben, so bewegt sich nun jeder Muskel darin schneller und stärker als je zuvor. Ihr rauscht das Blut in den Ohren und sie ist blind vor Panik.
Hinter ihr ertönt ein markerschütterndes Kreischen.
Jetzt kann man sie sehen. Sie riechen, sie spüren. Die Kraft ihres Geistes strömt heraus, ihre Aura blüht auf. Dutzende Ungetüme wittern ein hilfloses Tier - wie ein Reh, schwach und voller Angst. Ihre Füße schlittern auf den Blättern und dem schlammigen Boden.
Sie rutscht aus und fällt.
Ein schweres Gewicht stürzt auf sie und sie wird herumgerissen. Eine dunkle, messerscharfe Klaue zischt direkt vor ihrer Brust vorbei, sie wird weitergedreht und landet mit dem Blick zum Boden. Ein dumpfes Grollen ist zu vernehmen und sie presst die Augen zusammen.
Jetzt ist es vorbei.
Doch das Ungetüm bleibt stehen. Schaut sich langsam und verwirrt um.
Die Beute ist plötzlich verschwunden.
Es stößt einen wütenden Schrei aus und Amber vergräbt ihr Gesicht ängstlich in den Blättern unter ihr.
Das Ungetüm schleicht langsam davon...
Sie vernimmt Atmen, genauso hastig und angestrengt wie ihr eigenes, ihr Herz pumpt immer noch wild das Blut durch ihren örper, sodass es gegen den Druck vom Waldboden schmerzt.
Der Junge hat sie eingeholt, sich auf sie gestürzt und sie beide zur Seite gerollt.
Alles bricht plötzlich nach oben, die Angst, die Verwirrung, die Wut und die schamvolle Erkenntnis, diesem fremden Jemand hilflos ausgeliefert zu sein.
Sie holt zuerst mehrmals sehr heftig Luft und schluchzt dann in die Blätter hinein.
Es ist ihr egal, als das Gewicht von ihr verschwindet, weil der Junge sich auf seinen Rücken dreht.
Egal, dass er ihren Körper mitnimmt, sodass sie nun ihr Gesicht in seiner Brust vergraben kann.
Egal, dass er seine Hände auf ihren Kopf legt und diesen streichelt.
Sie weint lange. Sie versteht nicht. Sie will einfach zurück zum Haus.
Zu -
phobos.
Sie versteht sich selbst nicht mehr. Hasst sich für die Frage, ob sie sich denn je selbst verstanden hat. Hasst sich dafür, dass sie sich bei diesem Jungen trotz allem sicher fühlt und zugleich panische Angst vor ihm hat.
Es ... es tut mir leid.