Luca war total nervös, doch er versuchte, ruhig zu bleiben, er musste jetzt die Nerven behalten. Der Vorhang ging auf. Helles Licht beleuchtete die Bühne. Das Stück begann. Luca war froh, dass er erst in der dritten Szene auftrat, so hatte er noch ein wenig Zeit, sich in seine Rolle einzufinden. Als er ins Rampenlicht trat, war seine Nervosität wie weggeblasen. Mit sichtlicher Freude spielte er seine Rolle, dass seine Familie, sowie tausend andere Leute ihm zusahen, schien er nicht zu beachten. Auch die Szene, die er angekündigt hatte, nicht zu spielen, schaffte er mühelos. Den Gedanken an seinen möglichen Tod bei der Rettung des Jungen verfrachtete er in die hinterste Gehirnecke. Selbst die Schauspieler, die Luca nur als ernsten, verschlossenen Mann kennen gelernt hatten, waren beeindruckt. So hatten sie ihn noch nie erlebt. Auch Dennis, mit dem Luca sich während der Proben angefreundet hatte, staunte über den Wandel seines Kameraden. Er spielte Jonathans Freund, der ebenfalls im Rollstuhl saß. Dass Luca sich so verändert hatte, dass er offener, aber nicht übertrieben fröhlich geworden war, freute ihn. Der Vorhang schloss sich. Tosender Applaus brandete auf. Nach und nach kamen die Schauspieler zum Verbeugen auf die Bühne. Luca verbeugte sich zusammen mit den anderen Rollstuhlfahrern. Sie standen aus ihren Rollstühlen auf und erwarteten das auch von Luca. Luca jedoch blieb sitzen und verneigte sich aus dem Gefährt heraus. Später, beim Abschminken und Umziehen, fragte Dennis: „Warum sind Sie nicht aufgestanden, Luca?“ „Warum wohl? Seit meiner Kindheit bin ich an den Rollstuhl gefesselt.“ Dennis schaute schockiert. „Sie sind…“ Luca nickte. „Deshalb haben Sie den Rollstuhl so gut handhaben können.“ „Deshalb hat er was?“ Die Frau aus der Szene am Anfang war neugierig geworden. „Mr. Johnson sitzt im Rollstuhl.“ „Was? Du meine Güte, das ist ja schrecklich!“ „Wovon reden Sie?“ Jetzt waren alle Schauspieler aufmerksam geworden. Sie scharten sich um Luca, der nun der Mittelpunkt eines Kreises war und hörten gespannt zu, wie er von seinem Schicksal berichtete, einem Schicksal, das er als Fluch bezeichnete. Mit elf Jahren war er mit seinen Eltern und der damals dreijährigen Selina in der Stadt Fahrrad fahren. Selina war eher unsicher und fuhr etwas langsamer. Luca dagegen fuhr sicher und wollte immer der Schnellste sein. „Luca, pass auf und mach langsam!“, mahnte der Vater alle zwei Minuten. Doch Luca dachte gar nicht daran, das Tempo zu reduzieren, ein Verhalten, das ihm zum Verhängnis werden sollte. Als er nämlich in voller Fahrt - und ohne zu gucken - um eine Kurve brauste, kam ihm genau in diesem Moment ein Auto entgegen. Luca konnte nicht mehr ausweichen und so gab es einen heftigen Zusammenstoß. Der Fahrer des Wagens stieg sofort aus und schaute nach Luca, der weinend auf der Erde lag. Er ermunterte ihn, aufzustehen, doch Luca schaffte es nicht. Er klagte, dass ihm sein Rücken wehtue und er die Beine nicht bewegen könne. Sofort fuhren seine Eltern ihn ins Krankenhaus. Dort stellte man schnell einen Wirbelbruch fest. Die Ärzte richteten den Bruch, so gut es ging und doch kamen sie nicht umhin, Renate und Thomas zu sagen, dass ihr Sohn sein weiteres Leben im Rollstuhl verbringen müsse. Als Luca geendet hatte, sahen ihn seine Schauspielkollegen voller Mitleid an. „Das ist natürlich ein harter Schicksalsschlag“, sagte ein Mann bedauernd. Eine Frau, die eine der Pflegerinnen in dem Heim verkörpert hatte, verdrehte die Augen. „Mann Gerald, komm aus deiner Rolle raus“, stöhnte sie. „Nun mal langsam, Elvira.“ Um weitere, unnötige Diskussionen zu vermeiden, gab Delilah die Anweisung, Luca nun in Ruhe zu lassen. Luca schenkte ihr einen freundlichen Blick und ein dankbares Lächeln. Dann drehte er den Rollstuhl und fuhr in Richtung Zuschauerraum, wo seine Familie auf ihn wartete. Er hatte sie noch nicht erreicht, als plötzlich Dutzende von Fotografen auf ihn zu kamen. „Großartig“, murmelte er. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Die Fotografen fingen an, Bilder zu knipsen, manche zückten sogar Mikrophone. „Mr. Johnson, Sie haben gerade eine Hauptrolle gespielt. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“ „Hören Sie, ich habe im Moment wirklich keine Zeit. Würden Sie mich bitte durchlassen?“ Luca versuchte sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, doch der Andrang war zu groß. Entschlossen schob er die Pressefotografen beiseite und rollte ein kurzes Stück. Er kam aber nicht weit, denn schon waren andere Fotografen vor ihm. Mindestens drei Mikrofone und tausende Fragen tauchten vor seinem Kopf auf. „Aufhören!“, schrie er. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ Die Lichtbildner zeigten keinerlei Reaktion. Da tauchte plötzlich Dennis an Lucas Seite auf. „Haben Sie ihn nicht gehört? Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!“, donnerte er. Diese Drohung wirkte. Die Fotografen verschwanden und ließen Luca alleine mit Dennis zurück. „Danke, Dennis. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich jetzt alleine mit meiner Familie reden will?“ Dennis lachte. „Du kommst vielleicht auf Ideen, Luca. Natürlich nicht. Also, bis nächstes Mal!“ „Auf Wiedersehen, Dennis.“ Luca rollte zu seiner Familie. Er war nach diesem anstrengenden Tag vollkommen am Ende. „Gut gemacht, Luca.“ Selina schüttelte ihrem Bruder die Hand. „Was waren das eigentlich für Fotografen, die dich gerade interviewen wollten?“, fragte Thomas. „Keine Ahnung. Ich dachte, du hättest sie geschickt.“ Thomas arbeitete als Manager einer großen Firma und brauchte daher auch Leute, die die Produkte, die er herstellte, an die Öffentlichkeit brachten. „Nein, ich habe keine Fotografen geschickt.“ „Aber sie haben mich mit ‚Mr. Johnson‘ angesprochen. Das heißt, sie müssen mich kennen, ich habe meinen Namen nicht erwähnt“, beharrte Luca. „Was wollten die denn wissen?“, fragte Renate. „Nur, wie ich mich bei der Aufführung gefühlt habe. Ich gehe mal kurz an die frische Luft, das Klima hier drin macht mir Kopfschmerzen.“ „Ja, geh nur. Wir kommen nach.“ Luca machte sich auf den Weg nach unten. Vor dem Gebäude erwartete ihn eine einzelne Frau. Sie hielt ein Mikrofon in der Hand. „Na wenigstens nur eine“, dachte Luca. Und laut fragte er: „Was wollen Sie?“ „Ich bin Reporterin vom MF4. Uns wurde gesagt, dass hier ein gewisser Mr. Johnson zu finden sei.“ „Der bin ich. Also, schießen Sie schon los.“ „Wie haben Sie die Rolle bekommen, Mr. Johnson?“ „Ich habe in der Zeitung gelesen, dass nach Schauspielern gesucht wurde. Daraufhin bin ich zu einem Casting gegangen. Beim Warten war ich tierisch nervös, aber als ich an der Reihe war, hatte ich mich einigermaßen beruhigt. Am Ende des Castings hat man mit mitgeteilt, dass ich die Rolle bekommen habe.“ „In dem Theaterstück ‚Ein Leben mit Hindernissen‘ spielten Sie Jonathan, der nach einem Autounfall gelähmt ist. Für Sie als Rollstuhlfahrer war es sicher einfach, diese Schauspielrolle zu interpretieren, oder?“ Luca lachte. „Ja, es war relativ leicht, da ich die Nutzung dieses Gefährts gewohnt bin. Die anderen Schauspieler mussten sich ganz schön anstrengen, um glaubwürdig zu erscheinen. Das war schon irgendwie spaßig.“ „Wussten Ihre Kollegen, dass Sie auch im echten Leben im Rollstuhl sitzen?“, fragte die Journalistin. „Nein, das habe ich ihnen erst nach dem Stück gesagt“, antwortete Luca. „Darf ich fragen, wie sie reagiert haben, als sie das erfuhren?“, fragte die Journalistin. „Sie waren sehr überrascht und wollten wissen, wie es dazu kam. Viele fühlten auch mit mir.“ „War das Ihre erste Rolle?“ „Ja, im richtigen Theater schon. Vorher habe ich nur auf Schulaufführungen gespielt.“ „Mr. Johnson, noch eine Frage: wollen Sie die Schauspielerei weiter betreiben?“ „Wenn sich die Möglichkeit dazu bietet, wäre ich mit großem Interesse dabei“, verriet Luca augenzwinkernd. „In Ordnung. Vielen Dank für das Interview.“ Die Reporterin stieg in ihren Wagen und fuhr davon.
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