Wie an jedem Abend machte ich meine Runde durch den Hof, wies die Schüler an, ihre Arbeiten ordentlich auszuführen und motivierte hier und da mit einigen Stockhieben diejenigen, die ihre Aufgaben nicht mit der meiner Ansicht nach nötigen Sorgfalt zu verrichten schienen.
Vor vier Monaten hatte Shinji mir die Aufgabe der Rekrutin übertragen, alle Schüler und Schülerinnen gehörten nun in den ersten Wochen ihrer Klosterzeit mir. Ich genoss es, die jungen, formbaren Seelen zu demütigen, die schwachen Körper zum Äußersten zu treiben und sie ihre Grenzen überschreiten zu lassen. Mit dem anhaltenden Gefühl tiefer Befriedigung brach ich nach und nach den Stolz aller Neuankömmlinge, lehrte sie Demut und Respekt und entließ sie schließlich in die Ausbildung bei den höheren Mönchen, wenn ich sie als würdig empfand.
Als alle Aufgaben verteilt waren, beendete ich meine Runde wie üblich am Tor. Von den sieben Knaben, die sich vor vier Tagen lärmend und überheblich hier eingefunden hatten, waren gerade noch klägliche zwei übrig. Das bewegungslose Verharren und Abwarten während dem Verzicht auf sämtliche weltlichen Güter war Bedingung für die Aufnahme in dieses Kloster und somit die erste Prüfung für alle Neuankömmlinge.
Nur wenige bestanden diese und so brachen 90 Prozent der ‚Bewerber’ ab und machten sich nach einigen Stunden wieder auf den Weg in ihr wohliges, verwöhntes Leben, ohne den Sinn dieser Prüfung auch nur zu erahnen. Der beinahe stetig fallende Schnee und die damit verbundene Kälte erschwerte diese Aufgabe einerseits für alle Sterblichen, bot aber im Gegenzug all jenen Lebewesen überhaupt erst eine Chance, die Prüfung trotz Sonnenlicht zu bestehen.
Ich beobachtete die kümmerlichen Gestalten, wie sie dort im Schnee kauerten und ein fieses Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich die Erschöpfung und Verzweiflung in ihrem Blick sah, der sich dennoch mit dem trotzigen Willen paarte, diese Hürde um jeden Preis nehmen und sich nicht mit einer Abweisung zufrieden geben zu wollen. Nur noch wenige Stunden, dann würde ich sie erlösen müssen, um vor Shinji keine Rechenschaft ablegen zu müssen. Es gab Höchstgrenzen für die Anforderungen, die an Neuankömmlinge gestellt werden durften und ich reizte sie gerne bis zum Äußersten, aber dennoch musste auch ich mich ihnen letztendlich unterordnen.
Ich verspürte leichte Enttäuschung, dass schon lange kein Bewerber mehr durchgedreht war und versucht hatte, sich durch brutale oder hinterlistige Taten Zutritt zum Kloster zu verschaffen – ich liebte es regelrecht, gerade diesen mit ihren eigenen Waffen gegenüberzutreten, sie zu übertreffen und vernichtend zu schlagen, bis ihr Stolz in winzige Stücke zerbrochen waren und ein kümmerliches Häufchen Elend übrig blieb. An diesem Punkt waren Schüler am gelehrigsten und empfingen alles, was man ihnen darbot mit einer grenzenlosen Dankbarkeit, die an Verehrung heranreichte.
Gerade als ich mich wieder abwenden und zurück in den Hof gehen wollte, erschien eine weibliche Gestalt am Ende des kleinen Tales in dem das Kloster lag. Während sie sich mühsam auf dem schlecht befestigten und verschneiten Schotterpfad fortbewegte, nahm ich sie eingehend unter die Lupe. Schon auf diese Entfernung waren die japanischen Wurzeln offensichtlich, verächtlich spuckte ich auf den Boden und verzog das Gesicht. Sollte sie Einlass in dieses Kloster wünschen, würde sie dafür hart kämpfen müssen. Für eine Japanerin war sie ungewöhnlich groß, geschätzte 25 Jahre alt, das Haar naturbelassen schwarz und kurz geschnitten, im Normalfall wohl aufwändig gerichtet, nun aber unordentlich zerzaust. Ihre Kleidung mochte für die Winter in Japan angebracht sein, für die Hochebenen Tibets jedoch allenfalls mangelhaft, sie musste nach dem offensichtlich langen Marsch bis auf die Knochen durchgefroren sein. Ihre Haut war bleich, doch unter den Ärmelansätzen und am Kragen konnte ich dunkle Stellen ausmachen, die auf Tätowierungen schließen ließen. Allgemein schien die Person kräftig, aber nicht gewichtig zu sein, offensichtlich eine erprobte Kämpferin auf der Höhe ihrer körperlichen Auslastung. Wahrscheinlich hat sie eine Menge Dreck am Stecken und ist auf der Flucht vor der Polizei denke ich mir und freue mich schon beinahe auf ihre Ankunft. Noch fürchtet sie sich vor dem Arm des Gesetzes, bald schon wird sie sich nach deren Zellen sehnen.
Ich stieß ein kurzes schrilles Lachen aus, die erschöpft zusammengesunkenen Körper der beiden Anwärter zuckten zusammen und richteten sich wieder auf. Ich schenkte ihnen einen abschätzigen Blick und zog mich in den Schatten des Torbogens zurück, damit die ‚Neue’ mich nicht sofort sehen konnte. Wenige Minuten später tauchte die Frau vor dem Tor auf und machte Anstalten, an mir vorbeizugehen.
„Mit Verlaub, was plant Ihr hier gerade zu tun?“ Fragte ich mit scharfem Unterton und trat aus dem Schatten heraus vor die Fremde. Mein Stab rammte sich nur einen Zentimeter vor ihrem linken Fuß kraftvoll in den Boden. Sie zuckte kurz aus Überraschung und trat einen Schritt zurück, zeigte jedoch keine Furcht. „Ich will ins Kloster, was sonst?“ Gab sie forsch zurück. Ihre Art gefiel mir, es würde Spaß machen, sie zu brechen – wenn sie nur lange genug durchhielt.
„Nun, dieses Begehren verspüren viele, dennoch sind wir keine Mission. Wenn wir jeden räudigen Hund hier einlassen würden, wo kämen wir da hin?“ Ihr wütender Blick traf mich und zeigte, dass die Beleidigung ihr Ziel nicht verfehlt hatte und die Frau nur zu gerne Taten würde folgen lassen, denn ihre Muskeln spannten sich und ihr Atem zitterte nicht nur vor Kälte als sie ihre Stimme erneut hob. “Und was muss ich tun, um eingelassen zu werden?“ – „Das ist simpel“ gab ich lapidar zurück und machte eine abwertende Handbewegung. „Erweist Euch als des heiligen Bodens würdig.“ – „Und wie bitte?“ – „Nun, habt Ihr Augen im Kopf?“ – „Ja natürlich!“ – „Seid Ihr in der Lage, die Informationen zu verarbeiten, die Eure Augen liefern?“ – „Selbstverständlich!“ Das Beben in ihrer Stimme wurde stärker, es widerstrebte ihr gewaltig, sich so behandeln zu lassen.
„Nun“ sagte ich und meine Stimme troff geradezu vor Verachtung und Überheblichkeit. „Wenn Ihr denn so gebildet seid, dann seht Euch um und beantwortet Euch die Frage selbst.“
Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, wendete ich mich um, schritt durch das Klostertor und verschloss es. Einen Augenblick blieb die Person stehen, bebend vor Wut, dann traf ein kraftvoller Schlag ihrer Faust das Tor und sie wendete sich um. Durch ein Fenster im Tor sah ich zu, wie die Frau sich umblickte, die beiden Anwärter im Schnee sah und einen Moment nachdachte. Einige Male wanderte ihr Blick zwischen den beiden Jünglingen, dem Kloster und dem Weg hin und her, auf dem sie gekommen war, dann stieß sie resignierend Luft aus und gab sich erhobenen Hauptes zu den beiden anderen, um sich neben ihnen niederzulassen. Ich beobachtete sie noch eine Weile, bevor ich mich in den Tempel begab um Meister Akito Bericht über die neue Anwärterin zu erstatten.
Kurz vor dem Morgengrauen öffnete ich das Tor und trat wieder hinaus. Starker Schneefall hatte eingesetzt und die Temperaturen waren weiter gesunken, die Frau kniete wie die anderen Anwärter am Boden, schüttelte gerade den Schnee ab und sah mürrisch auf, als ich auf die kleine Gruppe zukam. Ungerührt und mit verächtlichem Blick ging ich an ihr vorbei und deutete den Jünglingen, sich zu erheben. Sie hatten ihre erste Prüfung bestanden und sich der nächsten Stufe als würdig erwiesen. Mit steifen Gliedern und unter offensichtlich starken Schmerzen erhoben sie sich und wimmerten leise. Ein wohliges Gefühl durchwogte mich einen Moment und stimmte mich milde, der Neuen eine kleine Hilfe zu gewähren. Als ich erneut auf Höhe der Frau durch den Schnee ging, blieb ich einen Moment stehen, beugte mich herunter, sodass mein Mund dicht an ihrem Ohr war und sagte für alle anderen unhörbar.
„Ihr werdet hier noch eine ganze Weile sitzen. Da Ihr nicht mehr sterblich seid, solltet Ihr den Schnee nicht abschütteln sondern als Schutz verstehen. Der Tag wird bald anbrechen und Ihr seid noch sehr jung, doch Ihr wisst sicher bereits, dass die Sonne nicht unser Freund ist, nicht wahr?“ Ich richtete mich wieder auf und sah noch den Schrecken in ihren grünen aufblitzen, ehe ich mich leise lachend umwandte und mit den beiden Jünglingen ins Kloster ging.
Als ich am darauffolgenden Abend zum Tor kam hatte sich der Schneefall auf ein Minimum reduziert und an der Stelle, an der die Fremde gesessen hatte befand sich ein großer Schneehaufen. Für Unwissende musste es wohl tatsächlich aussehen wie in den letzten Tagen zusammengekehrter Schnee und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als tatsächlich einige Jugendliche aus der naheliegenden Siedlung auf der Suche nach einem Zeitvertreib den Weg entlangkamen und den Haufen als Munitionslager für eine ausgedehnte Schneeballschlacht entdeckten. Ein erschrockenes Raunen fuhr durch die kleine Gruppe, als sie nach mehrfachem Hineingreifen und ‚Schneefassen’ erkannten, dass sich unter der weißen Oberfläche ein offensichtlich sehr schlecht gelaunter Mensch befand – oder etwas, das sie dafür halten mussten. Doch nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte und die Person im Schnee zwar sehr böse dreinblickte, sich aber ansonsten nicht regte, nahm schließlich die jugendliche Neugier und Unverschämtheit die Oberhand und sie gingen wieder näher heran, begannen, den Schnee mit den Händen von der Frau hinunterzukehren, auf sie einzureden und sie anzustoßen, um eine Reaktion zu provozieren. Die Einwohner der Siedlung die sich nur wenige hundert Meter entfernt des Klosters befand, kannten die Regeln und Rituale des Klosters und so machten sie sich einen Spaß daraus, die Frau zu reizen.
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