Drittes Fragment: Verschwunden?
Der Bote hetzte durch das Schloss von Nevar zum Thronsaal des Großkönigs Thjelm. Hoffentlich würde dieser nicht wütend sein. Diese Hoffnung verflüchtigte sich aber beim Gedanken an die Nachricht, die er zu überbringen hatte. Atemlos kam er vor der großen Tür an, hinter der sich Thjelms Saal befand. Er schnaufte noch einmal tief durch und trat ein. Der Saal war eher klein. Thjelms Thron befand sich am Ende des Saales, der etwa fünfzig Meter in der Länge und zwanzig in der Breite maß. Langsam aber sicher steuerte der Bote auf den Thron zu. Thjelm saß da, selbstherrlich wie immer. Doch er war alt geworden. Und fett. Er war zwar schon immer etwas kräftiger, doch seit er ihn das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte, hatte sich Thjelm stark verändert. Er trug zwar immer noch den dunkelblauen Königsmantel und teuere Gewänder, doch waren die etwa zwei Größen größer als die Vorherigen. Rechts neben seinem Thron stand ein größerer eher dünner Mann, der die Arme hinter dem Rücken hielt. Er war in schwarzen Samt gekleidet, was ihn unglaublich edel erscheinen ließ. An seiner rechten Hüfte hing ein Schwert in einer schwarzen Scheide, das etwas seltsam aussah. Es hatte keine wirkliche Spitze, sondern war vorne eckig. Seine ebenfalls pechschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Der Mann trug einen schwarzen Verband über dem linken Auge. Mit dem anderen Auge, das blutrot gefärbt war, starrte er den Boten unnachgiebig an.
"Was willst du?", donnerte Thjelm. "Weshalb bist du hier?" Der Bote stoppte und fiel auf die Knie. "Ehrenwerter Großkönig, mein Herr..." "Komm verdammt noch mal zur Sache oder ich werde dir Manieren beibringen, du Wicht!" Der schwarz Gekleidete trat einen kleinen Schritt vor. "Verzeiht mir, Herr. Ich bringe schlechte Neuigkeiten..." Er hatte gehofft, den König milde zu stimmen, wenn er direkt auf den Punkt kam, doch es geschah das Gegenteil. Thjelm war die Wut ins Gesicht geschrieben.
"Was ist passiert? Sag es mir!", sagte er langsam und mit bebender Stimme. "Mein Herr, die Acator, euer Flaggschiff ist in einen Sturm geraten und gestrandet. Im Königreich Mithuun nahe Koorbenhal, berichten unsere Informanten im Osten." "Ha! Und das soll schlimm sein?" Thjelms Laune hatte sich stark gebessert. Er lachte nun. "Ein Schiff lässt sich ersetzen! Vergesst die Acator. Sorgt nur dafür, dass dieser Offizier, wie hieß er noch..." Der andere Mann meldete sich zu Wort. "Shura, mein Herr", sagte er kalt und emotionslos.
"Genau! Der! Sorgt mir nur dafür, dass er wieder kommt!" "Ich fürchte, genau da liegt das Problem, mein Herr..."
Der Gesichtsausdruck von Thjelm änderte sich erneut. Und nicht zum Positiven. "Was meinst du damit" Der Bote musste schlucken. "Nun, er scheint desertiert zu sein..." "Was?" Thejm schrie ihn an. "Dieser Kerl darf doch nicht frei herumlaufen! Und du wagst es, mir zu sagen, dass er desertiert ist?" Thjelm schnippte mit dem Finger. Blitzschnell trat der schwarz Gekleidete hinter den Boten, zog sein Schwert, welches ein eigenartiges Surren von sich gab wie eine wütende Hornisse und stieß
es dem unglückseligen Überbringer der Nachricht in den Rücken. Das alles geschah im Bruchteil einer einzigen Sekunde und so schnell, dass es der Bote gar nicht mitbekam. Er kippte nach vorne um und war augenblicklich tot. "Yoshitsune", sprach er den Mann an "finde diesen Shura und bring ihn her. Tot oder lebendig. Ich
stelle alles zur Verfügung, was du brauchst." Der Mann verbeugt sich. "Sehrwohl, Herr." Dann ging er. Beim Hinausgehen murmelte er vor sich hin. "Wie lange habe ich darauf gewartet, Shura... Wie lange?"
Viertes Fragment: Zeitvertreib
Shura schlenderte durch die Stadt. Ein Bauer hatte ihm gesagt, dass sie Koorbenhal hieß. Wenigstens wusste er jetzt, wie der Ort hies, an dem er festsaß. Den Bauer hatte er trotzdem getötet. Er sollte Shura dankbar dafür sein. Das einfache Volk hat kein einfaches Leben. Er hatte ihn also erlöst.
In Koorbenhal herrschte reges Treiben. Menschen hasteten umher, andere boten ihre Waren lauthals schreiend auf dem Markt an. Shura bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen und sah sich auf dem Markt um. Viele Leute beäugten ihn mit missmutigen Blicken. "Wahrscheinlich wegen meiner Rüstung", dachte er sich. Er
konnte also ausschließen, dass er sich im Großkönigreich Nevar befand. Dort hätte man ihm Platz gemacht und bei seinem bloßen Anblick gezittert.
Ein Mann machte den Fehler, ihn anzurempeln. "Geh mir aus dem Weg, Kerl!", fauchte dieser Shura an, "Ich habe zu arbeiten und du stehst mir im Weg rum. Wer denkst du, wer du bist? Verschwinde!" So eine Dreistigkeit war Shura noch nie untergekommen. Sollte es tatsächlich jemand wagen, in Nevar so mit Ihm zu reden, war der Pöbler schneller tot, als er von eins bis zwei zählen konnte. Und die meisten Menschen konnten das sehr schnell.
Shura packte den Kerl an den Schultern und schmetterte ihn mit den Rücken voran auf den Pflastersteinboden. "Was bildest du dir ein, Bauer?" Shura sprach diese Worte mit tiefer Verachtung aus. Der andere starrte ihn angsterfüllt an. "Verzeihung, so war das nicht gemeint... Ihr nehmt alles viel zu ernst..." Was bildete sich dieser Wicht ein? Um Gnade betteln? Lächerlich. Shura zog sein Schwert und hielt es dem Mann vor die Brust. "Ihr werdet doch nicht...", stammelte dieser mit zitternder Stimme. "Doch. Empfange deine Strafe." Mit diesen Worten stieß Shura ihm das Schwert durch die Brust. Der Mann spuckte Blut, bevor er starb. Shura stand auf und blickte in die Menschenmenge, die seine Tat gesehen hatte und ihn entsetzt anstarrte. "Will mir sonst noch jemand sagen, was er von mir hält?" Niemand wagte es, etwas zu sagen. Shura lachte laut. Wie verweichlicht die Menschen doch waren. Vor sich hinkichernd verschwand er in der Menge.
Er beschloss, sich in der erstbesten Taverne, einer heruntergekommenen Spelunke namens "Der Gastfreund mit den großen Möhren" ein Zimmer zu nehmen. Erschöpft fiel er auf sein Bett und schlief ein.