Vielen Dank
Das meine ich aber auch nicht, dass Kinder weniger sehen oder begreifen. Die Kleinen gehen bedeutend wacher und aufnahmebereiter durch die Welt, als jene von uns, die sich zu Recht als erwachsen bezeichnen. Ich zweifle die generelle Erkenntnisfähigkeit des Menschen in letzter Instanz an. Also, dass wir Menschen allesamt nicht in der Lage sind, die Geheimnisse des Universums letztendlich zu lüften.
Um ein bisschen zu variieren, als nächstes eine meiner Kurzgeschichten
Meine wundervolle Welt
Das melodische Gezwitscher von Vögeln weckt mich. Gemütlich
bleibe ich noch einen Moment liegen und lausche dem Gesang, bis schließlich
etwas an meinen Haaren zupft. „Hey!“, rufe ich lachend und mache eine
wegwischende Handbewegung. Dann öffne ich die Augen und richte mich langsam
streckend auf. Der Frechdachs, der mir an den Haaren gezogen hat, einer der
kleinen blauen Piepmätze, die mich morgens zu wecken pflegen, schaut unheimlich
unschuldig drein und erntet einen belustigt-tadelnden Blick. Ich husche ins
Bad, wasche mir die Haare und mache mich fertig und schließlich gut gelaunt auf
den Weg zur Arbeit.
Die Straße ist auch heute ein bunter und lauter Ort. Die
Rollschuhe von Riesen rauschen auf der Fahrbahn vorüber. Aus dem Blumenbeet im
Vorgarten winken mir einige Tulpen zu. Fröhlich winke ich zurück. Eine alte
Dame, die es gesehen hat, schüttelt verständnislos den Kopf. „Ja, ich weiß“,
rufe ich ihr zu „ich habe ja heute Nachmittag einen Termin!“ Brummelnd und
ahnungslos setzt sie ihren Weg fort.
Als ich an einer Kreuzung stehe und warte, dass die Ampel
silber wird, reißt mich ein lautes: „Vorsicht! Weg da!“, aus meinen schläfrigen
Gedanken. Gerade noch kann ich dem Reiter aus dem Weg springen, der auf mich
zuprescht. Ich mustere ihn, während ich noch etwas benommen auf dem Bürgersteig
herumliege.
Er ist einer dieser gutmütigen Mittdreißiger mit Alibibart,
der vom lichter werdenden Haupthaar ablenken soll. Vielleicht Lehrer. Er steigt
ab und schaut mich besorgt an. Sein violettes Pferd lehnt sich lässig an die
Ampel. Der Reiter hilft mir auf die Beine. „Verdammt. Das war knapp. Alles in
Ordnung?“ Ich versuche, lustig zu sein und sehe an mir herunter, um ihn dann
anzugrinsen. „Alles noch da“, stelle ich fest. Auf sein besorgtes Gesicht
stiehlt sich ein Lächeln. Er scheint mich attraktiv zu finden, sonst würde er
sich jetzt fürchterlich aufregen und mich anmeckern, dass ich aufpassen solle.
Ich reiche ihm meine Hand. „Ich bin Laura. Lust nächste Woche Donnerstag einen
Kaffee mit mir zu trinken?“ Er ist völlig perplex und etwas überfordert. Nach
einem kurzen ungläubigen Entgleisen seiner Gesichtszüge, das echt niedlich
aussieht und mir ein glockenhelles Lachen entlockt, sagt er, wohl dadurch
bestärkt: „Ähm...ja...warum eigentlich nicht?“ Wir unterhalten uns. Er heißt
Erik und ist Sozialpädagoge, knapp daneben mit dem Lehrer. Schließlich schreibe
ich ihm meine Handynummer auf den Handrücken (zum Glück habe ich immer einen
Stift dabei) und verabschiede mich. Als ich mich auf dem Weg noch einmal
umdrehe, sehe ich, dass er mir noch lächelnd nachsieht.
Ich muss nur noch einen Block weiter. Dann gehe ich munter pfeifend durch den
Torbogen, der einfach magisch ist, und sogar andere Menschen oft zum
faszinierten Starren anregt. Viele Künstler haben hier bereits gearbeitet und
jeder hat ihm einen Teil seiner persönlichen Note hinterlassen. Auch Svea und
ich. Uns gehört der urige Hinterhofbau seit drei Jahren. Das war kurz bevor
meine Einbildungen anfingen.
Svea begrüßt mich mit einem Rotbuschtee. „Hey Maus, wie
geht’s dir?“, fragt sie besorgt. „Sehr gut“, strahle ich. „Ich habe heute eine
echt tolle Bekanntschaft gemacht.“ Ich erzähle ihr von meinem Beinahe-Unfall.
„Mensch Laura! Mal wieder typisch für dich, unvorsichtig zu sein und dafür auch
noch belohnt zu werden“. Meine beste Freundin muss jetzt auch grinsen. Sie
weiß, dass ich, was Menschen betrifft, auch jetzt ein gutes Händchen habe. Sie
wird wieder ernst. „ Aber ich meine doch wegen heute Nachmittag, Maus.“ Ich
zucke mit den Schultern. „Klar hab ich ein bisschen Bammel, aber was muss, das
muss. Mit Panik änder’ ich da auch nichts dran.“ Damit gibt Svea sich zufrieden
und das Thema ist vom Tisch, falls ich es nicht wieder anspreche.
Ich mache mich an das letzte Bild aus der Reihe „Meine wundervolle
Welt“, an dem ich seit zwei Tagen arbeite. Es zeigt den Torbogen und durch ihn
hindurch den Hinterhof und mein Atelier in bunten, fröhlichen Farben, wie ich
es liebe und kenne. Es ist Mittag, als ich fertig bin. Fragend schaue ich zum
Fenster. Kurz zögert es und mustert mein Werk mit kritischem Blick, dann
beginnen die altmodischen Läden Applaus zu klappern. Als ich mein Werk Svea
zeige, ist sie überrascht. „Das gibt’s ja gar nicht! Das siehst du ja genauso
wie ich!“
Heute Nachmittag nehmen sie mir in einer komplizierten OP den Tumor heraus, der
seit drei Jahren immer mehr auf mein Wahrnehmungszentrum drückt und mich wohl
töten würde, wenn sie es nicht täten.
„Das ist ja auch unsere Welt. Nicht nur meine“, sage ich. Wir umarmen uns.
Ich werde vieles vermissen, wenn ich heute Abend wieder aufwache. Aber ich
freue mich auf Donnerstag. Mal sehen, wie Erik sich aus einem anderen
Blickwinkel macht.